Lieber zu früh als zu spät – Die Glocke des Evangelischen Seminars Maulbronn
„Es ist doch aber erst fünf vor eins! Ich glaube, die Glocke der Klosterkirche müsste mal wieder neu eingestellt werden.“ „Hör mal, und jetzt fünf vor vier! Nicht mal auf die Kirchenglocke kann man sich heutzutage noch verlassen!“
Einen so gearteten Dialog könnte man sich unter zwei Flaneuren auf dem Klosterhof oder zweier oberhalb des Klosters entschlossen auf ihr Ziel sich zubewegenden Passantinnen vorstellen, in Anbetracht der Zeiten, an denen auf dem Klosterhof Glocken zu hören sind. Täglich um fünf vor sieben, fünf vor eins, fünf vor vier, fünf vor sieben, fünf vor halb neun und fünf vor neun abends, ist neben bzw. vor der Glocke der Klosterkirche, die wie vorgesehen läutet, noch eine zweite Glocke, die Seminarglocke zu hören.
Befestigt – vermutlich seit der Klostergründung – ist sie am kleinen Dachreiter über dem ehemaligen Dorment und ist nicht gleich zu bemerken. Als Ersatz für die alte während des 2. Weltkriegs eingezogene Glocke hängt die heutige Glocke dort als Dritte in der Reihenfolge der Dachreiterglocken seit 1948. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurde sie als Friedensglocke zum Teil aus Bronze und aus von Seminaristen im Wald gesammelten und danach eingeschmolzenen Patronenhülsen gegossene Glocke in Auftrag gegeben. Es ist ein helles, eher hochfrequentes, unregelmäßiges Läuten, das manchmal kurz und kaum bemerkbar und manchmal lang, dynamisch und besonders insistent erfolgt. Nicht der Glöckner von Notre Dame Maulbronniensis ist zu Gange und auch keine Mönche, die sich nach fast fünfhundert Jahren das Kloster wieder zu eigen gemacht haben, sondern die Seminaristinnen und Seminaristen, die in den Räumen des ehemaligen Klosters leben und hier im staatlichen, allgemeinbildenden Gymnasium mit Internat zur Schule gehen.
Eingeläutet durch das Erschallen der Glocke wird ihr Tagesablauf, der klar geregelt ist, und das immer fünf Minuten früher, so dass genug Zeit ist, um pünktlich zu sein: Um sieben Uhr morgens geht es zum Frühstück, um ein Uhr gibt es Mittagessen, um vier Uhr nachmittags geht es im Arbeitszimmer ans Lernen, um sieben Uhr abends gibt es Abendessen, halb neun melden die Semis, dass sie ihre gemeinschaftlichen Dienste wie z.B. Ordnung im Klassenzimmer, in den Teeküchen oder in der Bibliothek herzustellen, verrichtet haben, und um neun Uhr abends ist zumindest für die Neuner:innen Hausschluss. Ertönt die Glocke sonntagabends fünf vor neun, begeben sich die Semis in das Chorgestühl der Klosterkirche, um entweder an der seminarinternen wöchentlichen Andacht bzw. dem öffentlichen Gottesdienst teilzunehmen. Völlige Irritation bei der Interpretation des Glockenklangs könnte nun beim abendlichen Läuten der Seminarglocke während der Klosterkonzerte entstehen, doch handelt es sich auch hier um die den Besucher:innen der Konzerte wohlbekannte Aufforderung ihre Plätze wieder einzunehmen.
Das alte, so viele Bereiche unseres Lebens durchziehende Spiel von Schein und Sein entfaltet sich hier am Beispiel unserer Semiglocke: visuell erscheint sie unscheinbar, akustisch ist sie jedoch präsent, funktional scheint sie fehlgeleitet und sinnfrei, sie ist aber sinnorientiert gesteuert, rational betrachtet könnte sie stören, emotional aber haucht sie dem musealen Kloster Leben ein und erzeugt, wenn man genauer hinhört, eine deutlich fühlbare Wärme. Unsere Seminarglocke.